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Die Meinungsbildnerin

1970 fing eine neue Zeit in Astrid Lindgrens Leben an. Sie ging in Rente von ihrer Arbeit bei Rabén & Sjögren und hoffte auf ein etwas langsameres Tempo in ihrem Leben. Im Jahr zuvor, 1969, ist ihr geliebter Vater Samuel August gestorben, und das letzte Buch über Michel aus Lönneberga widmete sie ihm. „Mein Vater lebte in seinen letzten Jahren so kolossal mit Michel und ich denke fast, er glaubte, dass es Michel wirklich gab.“

In den ersten beiden Jahren der 1970er Jahre wurden keine neuen Bücher von Astrid Lindgren veröffentlicht, abgesehen von unterschiedlichen bearbeiteten Versionen der Bilderbücher und älteren Pippi-Serien. Aber im Herbst 1973 wurde die „Brüder Löwenherz“ veröffentlicht. Ein Abenteuerroman, ein romantisches und zeitloses Märchen über den Kampf zwischen Böse und Gut, über Mut und Angst, Liebe und den Tod.

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Die Brüder Löwenherz

Das Buch wurde von linksradikalen Kritikern als apolitisch oder politisch vereinfacht kritisiert. Die Erzählung, so wurde behauptet, wäre nicht realistisch und die Strukturen hinter dem Bösen und der Unterdrückung würden nicht erklärt. Außerdem regten sich erwachsene Leser über die direkte Schilderung des Todes auf, vor allem am Ende des Romans. Es wurde als zu dunkel und beängstigend beschrieben. Einige meinten sogar, es würde Kinder zum Selbstmord animieren.

Aber die Kinder, die das Buch gelesen haben, schienen es auf eine vollkommen andere Weise zu lesen als die Erwachsenen. Astrid Lindgren erhielt Tausende Briefe von jungen Lesern, die sich bedankten, sich getröstet fühlten und sich fragten, wie es Krümel und Jonathan in Nangilima erging.

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Todesjahre

Astrid hatte selbst ein starkes Bedürfnis nach Trost, da ihr großer Bruder Gunnar im Mai 1974 nach langer Krankheit gestorben war. Gunnar stand Astrid am nächsten von allen Geschwistern und sein Tod traf sie sehr.

„Ich werde niemals diese Nacht vergessen, als wir ihn aufgesetzt haben, damit er leichter atmen kann, und wie elendig er in unseren Armen hing, mit dem Todesschweiß auf seiner Stirn. Nein, ich kann nicht weiter schreiben, ich vermisse ihn so furchtbar und erinnere mich an unsere Verbundenheit in den Kinderjahren - Lasse aus Bullerbü, der erste Sachensucher, ist tot.“

Aber 1974 gab es noch mehr große Verluste. Ihre nahen Freunde, Olle Holmberg, Kritiker und Literaturprofessor in Lund, und Per-Martin Hamberg, Schriftsteller und Radioproduzent, sind beide in diesem Jahr gestorben. Genauso wie Gerda Nordlund, „Nolle“, die 22 Jahre als Haushaltshilfe für Astrid gearbeitet hat. Im Februar wurde sie überfahren, als sie mit dem Fahrrad von Astrid Lindgrens Wohnung ins Kino fuhr.

„Ja, 1974 war ein Todesjahr wie kein anderes und die vier /.../ haben die größte Leere hinterlassen.“

Die Hilflosigkeit der Armut

Astrid Lindgren wurde nicht nur eine der erfolgreichsten schwedischen Schriftstellerinnen. Sie sollte auch eine der wichtigsten Meinungsbildnerinnen Schwedens werden. Ihr ganzes Leben lang hat sie sich konsequent gegen Unrecht und Unterdrückung eingesetzt. Der Grundstein für ihr Engagement für die Rechte der Kinder wurde früh gelegt. Parteipolitisch wurde sie bereits in den 1930er Jahren überzeugt, dass sie den Sozialdemokraten angehörte.

1976 wurde Madita und Pims veröffentlicht, eins ihrer politischsten Bücher. Darin wurden das Unrecht in der Gesellschaft, soziale Kluften und Unterdrückung durch die Augen von Madita geschildert. Sie ist ein bürgerliches Mädchen mit einem unbeugsamen Gefühl für Gerechtigkeit, das die gnadenlose Entdeckung macht, dass die Gesellschaft zutiefst ungerecht ist.

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Zitate

„Die Hilflosigkeit der Armut, was ist das?, fragt sie Papa. Und er erklärt ihr, wenn man richtig arm ist, dann ist es genauso, als wäre man an Händen und Füßen gefesselt, man kann nichts tun. Man ist ganz hilflos, wenn etwas passiert, Krankheit oder etwas anderes, was schwer ist in diesem Leben.“

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Pomperipossa

1976 mischte Astrid Lindgren sich außerdem zum ersten Mal in die öffentliche politische Debatte ein. Sie rief Bo Strömstedt, den Chefedakteur des Expressen, mit den Worten an: „Hier spricht Astrid Lindgren, ehemalige Sozialdemokratin!“

Astrid schrieb einen groß aufgemachten Artikel in Gestalt eines Märchens, das sie Pomperipossa in Monismanien nannte. Der Artikel war ein scharfer Angriff auf die sozialdemokratische Regierung und deren Steuerpolitik, und in der folgenden Debatte äußerte Astrid Lindgren desweiteren Kritik am diktatorischen Auftreten der Regierungspartei.

Astrid Lindgren wurde durch diese Debatte zur massiven Gegnerin der Regierung. Das war sicher nicht ihre Absicht, aber ihre Artikel – zusammen mit Ingmar Bergmans Abschiedsbrief an Schweden, der ebenfalls in der Abendzeitung Expressen abgedruckt wurde – trugen nach vierzig Jahren Amtszeit sicher nicht unwesentlich zur Wahlniederlage der sozialdemokratischen Regierung bei den Wahlen im gleichen Jahr bei.

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Niemals Gewalt!

Etwas, was sich unerschütterlich und konsequent wie ein roter Faden durch das gesamte Werk von Astrid Lindgren zieht, ist ihr Kampf für das Recht aller Kinder auf Geborgenheit und Liebe. Diese Einstellung durchtränkt fast ihre gesamte Produktion.

Als Astrid Lindgren 1978 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen wurde, formulierte sie ihre Dankesrede zu einer starken Aufforderung: „Niemals Gewalt!“

In der Rede, die heute wieder brennend aktuell ist, äußerte sie sich leidenschaftlich gegen Gewalt, Prügel und unterdrückende Erziehungsmethoden. In Deutschland war diese Rede sehr kontrovers. Erst als Astrid Lindgren drohte, den Preis nicht anzunehmen, erhielt sie die Erlaubnis, die Rede bei der feierlichen Preisvergabe zu halten. Im Jahr darauf wurde die körperliche Züchtigung von Kindern in Schweden gesetzlich verboten.

„Wir alle wollen ja den Frieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, uns zu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir nicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten? Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue Art Mensch zu werden? Wie aber sollte das geschehen und wo sollte man anfangen?

Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern.“

Fürsorge für die Natur

1980 war es an der Zeit für die nächste große politische Streitfrage - die Volksabstimmung über die Kernkraft. Astrid Lindgren engagierte sich leidenschaftlich und wurde eine der bekanntesten Fürsprecherinnen der Linje 3, der Nein-Seite.

Während der Kernkraftstreit wütete, schrieb Astrid Lindgren an dem Buch, das ihr letzter großer Roman sein sollte - Ronja Räubertochter, das 1981 erschien. Das zentrale Thema der Geschichte, das Verhältnis des Menschen zur Natur, sollte das letzte große Engagement in ihrem Leben werden: der Kampf für das Wohlergehen der schwedischen Haustiere und der Erhalt der offenen Landschaft in Schweden. Die Tierschutzkampagne erstreckte sich über zehn Jahre in den 80er und 90er Jahren und Astrid Lindgren wurde für die grüne Bewegung zu einer wichtigen Kraft in der Debatte. In ihrem letzten Buch knüpft sie an die Symbiose der Kindheit mit der Natur an.

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Astrid und die Tiere

„Fragt mich aber jemand nach meinen Kindheitserinnerungen, dann gilt mein erster Gedanke trotz allem nicht den Menschen, sondern der Natur. Sie umschloss all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, dass man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann. Der Steinhaufen, wo die Walderdbeeren wuchsen, die Leberblümchenstellen, die Schlüsselblumenwiesen, die Blaubeerplätze, der Wald mit den rosa Erdglöckchen im Moos, das Gehölz rings um Näs, wo wir jeden Pfad und jeden Stein kannten, der Fluss mit den Seerosen, die Gräben, die Bäche und Bäume, an all das erinnere ich mich besser als an die Menschen.”

Im Herbst 1985 schrieben Astrid und die Tierärztin Kristina Forslund etliche Artikel in der schwedischen Zeitung Expressen, um das Bewusstsein der Menschen dafür zu wecken, wie schlecht Schweine, Kühe, Hühner und andere Tiere in Schweden behandelt wurden. Das Thema lag Astrid als Bauerntochter sehr am Herzen. Die Artikel wurden in dem Buch „Meine Kuh will auch Spaß haben“ (1990) gesammelt.

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Lex Lindgren

Zu ihrem 80. Geburtstag bekam Astrid Lindgren vom damaligen sozialdemokratischen Ministerpäsidenten Ingvar Carlsson ein neues Tierschutzgesetz geschenkt, das Lex Lindgren, aber als es schließlich verabschiedet wurde, war es in mehreren wichtigen Punkten verwässert. „Soll ich mich etwa geschmeichelt fühlen, weil dieses sinnlose Gesetz nach mir benannt wird?” fragte Astrid in einem Artikel im März 1988.

Je mehr Astrid Lindgren in der Debatte zu sehen und zu hören war, umso mehr Menschen und Organisationen suchten ihre Hilfe, um unterschiedliche Kampagne zu führen und Meinungen zu bilden. Manchmal wurde diese Last auf ihren Schultern unzumutbar schwer, was jedoch auch ihre Stellung und Kraft erahnen lässt. Als öffentliche Meinungsbildnerin war sie unschlagbar, aber es gibt auch unterschiedliche Beispiele dafür, wie sie im Stillen unterstützte und Einzelnen in einer ungerechten Welt zu ihrem Recht verhalf.